Text: Genesis (1. Mose) 4,1-16 (Einheitsübersetzung)
Liebe Gemeinde!
Mord in der Familie! Aktueller könnte in diesen Wochen kaum eine Geschichte aus der Bibel sein. Es waren Morde von Eltern an ihren Kindern, an ihren Ehepartnern, an sich selber, die in den letzten Wochen traurige Schlagzeilen gemacht haben. In manchen Fernsehberichten und auf manchen Fotos im Internet und in Zeitungen waren wieder mal Fotos von selbstgemachten Schildern mit der Frage „Warum?“ zu sehen. „Wie kann man das nur machen? Wie kann man nur die eigenen Kinder umbringen?“ Oder andere Menschen, zu denen man eine ganz besondere Vertrauensbeziehung hat. Ich frage mich das genauso wie Hunderttausende, vielleicht Millionen anderer auch. Morde in der Familie. Vielleicht kommen dem einen oder der anderen auch die sogenannten „Ehrenmorde“ wieder in den Sinn. Morde von Vätern, meistens aber von Brüdern, an ihren Schwestern oder Töchtern weil sie mit ihrer Art zu leben angeblich die Ehre der Familie verletzt haben. Wie kann man das nur machen? Alles nur eine Sache armer Irrer oder rückständiger Muslime? Ich habe keine gültige Antwort. Ich habe Fragen. Und ich habe einen Verdacht. Den Verdacht nämlich, dass das keine Frage rückständiger Muslime oder psychisch total kranker Menschen ist, kein unerklärliches Phänomen, sondern im Grunde eine Frage des Menschseins. Ich habe den Verdacht, dass es möglicherweise bei diesen unbegreiflichen Morden um etwas ganz Ähnliches geht wie in der Geschichte von Kains Brudermord an Abel. Da geht es für mich um gekränkte Eitelkeit. Gott nimmt Kains Opfer nicht wahr. Im Gegensatz zu dem seines Bruders Abel. Kains Eitelkeit, sein Gefühl, etwas gelten zu sollen und zu müssen, ist verletzt. Und dann geht die Geschichte so tragisch und dramatisch weiter. Bei einem Familienmord dieser Tage in Berlin ging es darum, dass der Mann nicht mit Schulden leben wollte und er auch seiner Familie keine materielle Armut zumuten wollte. Bei einem anderen Mord ging es darum, dass die Frau mit den Kindern den schlagenden Mann und Vater verließ, bei einem anderen darum, dass die Tochter älter wurde und sich von der alleinerziehenden Mutter löste. Bei den sogenannten Ehrenmorden einfach um das in den Augen der Männer beschädigte Ansehen. „Eigentlich steht mir doch mehr, was anderes zu. Eigentlich müsste ich doch besser dastehen. Ich will was sein, ich will was gelten, lieber will ich auf andere herabschauen als dass andere besser als ich sind.“ Gekränkte Eitelkeit. Vielleicht wie bei Kain, der nicht ertragen wollte, dass bei seinem Bruder was besser war. Er war doch der Ältere! Er hieß doch Kain, auf Deutsch etwa „Gewinn, Errungenschaft“ und nicht Abel, „Hauch, flüchtig, vergänglich“ wie sein kleiner Bruder! Gekränkte Eitelkeit. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie lebensnah, wie ehrlich, wie aktuell die Grunderzählungen über Gott und uns Menschen in der Bibel bis heute sind.
Natürlich führt gekränkte Eitelkeit nicht immer zum Mord. Ich bin selbst Bruder einer jüngeren Schwester und ich war zwar in meinem Stolz verletzt, dass ausgerechnet meine kleine Schwester beim Fußball vor mir gewählt wurde, dass sie zur Konfirmation mehr Geschenke bekam – aber meine Schwester lebt noch.