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Sonntag, 21. November 2010

Alles neu! - Ewigkeitssonntag, 21.11.10, Reihe II

Text: Offenbarung 21,1-7
Liebe Gemeinde!


Alles wird neu, anders, besser. Diesmal nutze ich die Chance. Ich lerne mehr in der Schule, verspricht Niki. Ich häng nicht mehr mit den Leuten rum, die mich runterziehen. Ich will nicht mehr so viel Ärger haben und nicht mehr so viel Ärger machen. Ich mache was aus meinem Leben. Alles wird neu, anders, besser. Ich trink nicht mehr, verspricht der Mann. Ich trinke nicht mehr, ich kümmere mich um Arbeit. Und ihr müsst keine Angst mehr haben, dass ich um mich schlage, wenn ich voll bin. Alles wird neu, anders, besser. Ich betrüge dich nicht mehr, ich gehe nicht mehr fremd. Ich stehe zu dir, zu unserer Familie. Gib uns noch eine Chance. Alles wird neu, anders, besser. Yes, we can. Ja, gemeinsam schaffen wir es, unser Land, die Welt besser, sicherer zu machen. Ich zeige euch den Weg. Alles wird neu, anders, besser. Ich will jetzt wirklich ernst¬haft an Gott glauben, ganz auf Jesus vertrauen. Ich will nicht mehr wie früher gleichgültig sein oder über Leute, die an Gott glauben, lächeln. Alles wird neu, anders, besser. Und wie lange? Was ist, wenn die Freunde nur noch „Streber“ sagen, einen schneiden, von tollen Wochenenden erzählen, an de¬nen Niki selbst nur gelernt hat? Was ist, wenn statt der er¬hofften Arbeit nur Absagen kommen, wenn Meinungsverschiedenheiten da sind und das Gefühl, dass alles zu viel wird? Was ist, wenn einem die Kumpels abends in der Kneipe sagen, dass die Evi gut im Bett ist und nur auf ihn wartet, er kann das doch? Was ist, wenn die politische Wirklichkeit kommt und Wahlkampfversprechen mühsamen Kompromissen wei-chen? Wie ist das, wenn eine schwere Krankheit und der quälende Tod eines geliebten Menschen dann doch Zweifel an dem gütigen Gott aufkommen lassen? Alles wird neu, besser, anders – tatsächlich für immer oder nur bis zur ersten, zweiten oder spätestens dritten Schwierig-keit?

Menschen zweifeln, wenn ihnen versprochen wird, dass alles neu, anders, besser wird. Weil sie bei anderen und bei sich selbst aus eigener Erfahrung merken, dass die Kraft zu wirklicher Veränderung oft nicht lang anhält und dann alles weiter geht wie gewohnt – manchmal eben wirklich alles andere als gut. Menschen zweifeln. Aus Enttäuschung. Über sich selbst, über andere. Und weil wir Menschen die Erfahrung machen, dass Veränderungen manchmal sehr weh tun. Gerade heute. Alles wird anders – 29 Namen werden gleich vorgelesen. 29 Namen von 29 Menschen, die in unserer Gemeinde seit dem letzten Ewigkeitssonntag gestorben sind. 29 Menschen, die fehlen. 29 Leben von Kindern, Ehemännern und Ehefrauen, Geschwistern, Verwandten, Freunden, die sich geändert haben. Was soll das Gerede von einem neuen Himmel, einer neuen Erde, wenn ein wichtiger Teil des eigenen Lebens unter diesem Himmel und auf dieser Erde fehlt? Wieder so eine Vertröstung, „alles wird gut“, wo doch nichts gut ist? Wieder so ein Warten, das kein Ende nehmen will? Nein, vertrösten und von harter Wirklichkeit ablenken wollen diese Worte aus der Bibel nicht. Sie wollen helfen, über eine harte und traurige Welt hinauszusehen und Gott mehr zuzutrauen, als Menschen je zu tun in der Lage wären. Der Seher Johannes, eine Art Prophet, schreibt vor diesem Bild von einer schönen, neuen Welt in ganz viel düsteren Bildern, die den neuen Harry Potter und alle düsteren Filme, die je im Kino gelaufen sind, weit in den Schatten stellen, von der Wirklichkeit der Christen seiner Zeit. Von Verfolgung und Bedrohung. Von Lebensgefahr. Von der Schwäche, aus Angst Gott und sich selbst zu verraten. Von der Gleichgültigkeit. Und er schreibt von dem Leid, das durch Hass, Rache, Gleichgültigkeit und aus der Erfahrung, dass wir Menschen unser Leben ganz und gar nicht im Griff haben, entsteht. Er schreibt davon in Bil-dern, die schwer zu verstehen sind. Er redet nichts schön. Er macht den Menschen nicht vor, dass sie nur ganz fest glauben müssten und schon bliebe ihnen das alles erspart. Im Gegenteil. Oft scheint es ja denen, die nicht auf Gott vertrauen, die zynisch leben, die sich am Leid und der Angst anderer freuen, besser zu gehen. Denen, die skrupellos andere ausnutzen, damit sie im Vorteil sind. Denen, die sagen, es ist doch nicht schlimm, wenn ein Mensch stirbt, eine Ansammlung von Molekülen weniger in dieser Welt, mehr nicht. Denen, die vor Krieg, Vergewaltigung, Menschenhandel und Mord nicht zurückschrecken, um Gewinn zu machen. Denen, die mit dem Tod Geschäft machen und aufgeschnittene Körper ausstellen, die den Menschen als eine Art Maschine sehen. Nein, schonungslos wird die Wirklich-keit erzählt. Zu der Leid und Trauer gehören. Leid, Trauer, Zweifel, auch einem, der noch so fest und vertrauensvoll glauben kann, bleibt das nicht erspart. Im Vertrauen auf die neue Wirklichkeit, die Gott in Jesus hat anbrechen lassen, schreibt Johannes aber auch von dieser neuen Welt. Johannes erzählt davon, dass Gottes Ziel für das Leben nicht ist, dass wir im Sumpf der Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit, der Trauer und des Verlustes steckenbleiben oder uns nur an ein irgendwie schöneres Gestern klammern könnten, weil alles, was kommt, nur schlechter als die Vergangenheit sein könnte. Nein, es gibt eine Zukunft. Eine Zukunft, von der nur in Bildern erzählt werden kann. Eine Zukunft, die ans Licht bringen wird, was wirklich stark ist. Es gibt eine Zukunft, die die Hoffnung auf eine gute, gerechte Welt, auf einen Sieg des Lebens rechtfertigt. Gott wird mitten unter den Menschen wohnen: siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er selbst wird bei ihnen wohne. Gottes Hütte oder, so kann es auch übersetzt sein, Zelt. Ein Bild, das auf das Alte Testament zurückgeht. Gott, so erzählt die Bibel, zog wie in einem Zelt mit dem Volk Israel. Wo dieses Zelt, diese Hütte auf der langen Wanderung von Ägypten in das gelobte Land aufgeschlagen wurde, da war Gott wirklich da. Eine tolle Vorstellung und für mich die Grundlage des Glaubens. Gott wohnt nicht in einem Palast oder im Himmel, sondern mitten unter den Menschen. In Jesus hat er das ganz deutlich gemacht. In ihm war Gott in dieser Welt, in diesem Leben erfahrbar. Nicht weit weg. Nicht wir müssen uns auf einen weiten Weg zu Gott machen, sondern bevor wir uns aufmachen, hat Gott sich schon zu uns aufgemacht. Gott kommt zu uns. Und er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Der Tod behält nicht das letzte Wort. Das Leben im Glauben ist kein Leben ohne Tränen und ohne Leid, aber ein Leben, das wissen darf, dass Trost wartet. Auch in Zeiten, in denen er noch so fern zu sein scheint. Das alles steht un-ter der Verheißung: Siehe, ich mach alles neu! Der, der das von sich sagt, Gott, macht alles neu. Er ist es, der die Hoffnung wachhält, dass sich Leben lohnt, dass sich Ge-rechtigkeit und Frieden durchsetzen, dass Leid und Unterdrückung ein Ende haben. Er macht alles neu. Wo Menschen alles neu machen wollen, wo Menschen endgültige Erlösung versprechen, wird es schiefgehen. Wir Menschen bleiben mit unseren Möglichkeiten begrenzt. Das, was wir tun, wird nie perfekt sein und unglaublich viel Leid entsteht dadurch, dass Menschen andere mit Gewalt zu ihrem Glück oder zu einem Glauben zwingen wollen, der angeblich glücklich macht. Wir Menschen müssen und dürfen uns nicht an Gottes Stelle setzen und absolute Herrschaft über das Leben und Sterben anderer ausüben wollen. Wir können uns gegenseitig keine endgültige Erlösung verschaffen. Was wir können ist es, zu hoffen und aus dieser Hoffnung heraus zu leben. Vorzuleben, was dem Leben dient, weil das Leben von Anfang an Gottes Wille ist. Die Zukunft hat begonnen. Sie ist noch nicht da, noch nicht fertig. Wir dürfen an der Zukunft, an Gott Zukunft für die Welt mit bauen. Durch Vertrauen, das wir trotz aller Versagenserfahrungen uns gegenseitig schenken. Weil wir hoffen dürfen, dass Gott auch das, was scheitert, zum Guten führen kann. Wir dürfen mit bauen, mitarbeiten, besser machen. Aber wenn wir glauben, es fertig machen zu müssen, werden wir uns und die Menschen, die mit uns leben, letztlich wirklich fertigmachen und scheitern.

Es ist nicht die Erfahrung, die dafür spricht, dass alles anders, besser, alles neu wird. Gute Absichten scheitern. Menschen verletzen sich gegenseitig, weil wir nicht in der Lage sind, perfekt zu sein. Es ist nicht die Erfahrung, die uns Hoffnung schenkt. Zu oft erfahren wir, das Leben abbricht, das Abschied weh tut. Es ist der hoffende Glaube, das Vertrauen, das Gott wirklich A und O ist, Anfang und Ende, dass Gott alles Reden, Tun und Handeln umfasst. In ihm ist der Anfang und das Ziel des Lebens und das Ziel ist gut. Das Ziel liegt im Leben, das Gott schenkt. Im Leben, das getröstet und gut ist. Das Ziel ist ein Geschenk. Wir können darauf hin leben und glauben. Mit Rückschlägen und Umwegen. Wir müssen es nicht zwingen. Wir dürfen leben.

Amen

Sonntag, 14. November 2010

It's the Hope, Stupid... - Hoffnung ist (fast) alles?!, Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 14.11.2010, Reihe II

Text: Römer 8,18-25
Liebe Gemeinde!


Können Sie sich an die Zeit vor 35000 Jahren erinnern? Kleine Gedächtnishilfe: damals entstanden die allerersten Höhlenmalereien. Mitten in der Steinzeit. Lange her. Natürlich jenseits unserer Vorstellungskraft. Aber in 35000 Jahren wird das Plutonium, das heute als Atommüll aus unserem Stromverbrauch eingelagert wird, immer noch lebensgefährlich strahlen. Menschen haben letztes Wochenende gegen diesen Müll demonstriert. Allein der Polizeieinsatz hat so viel Geld gekostet, dass 1600 Familien, die Hartz IV bekommen, ein Jahr lang davon unterstützt werden könnten. Jeden Tag verschwinden Regenwaldflächen von der mehrfachen Größe Marburgs für immer. Jeden Tag sterben in Eritrea, Somalia und Äthiopien unzählige Menschen an Hunger und vermeidbaren Krankheiten, weil dort Krieg geführt wird. Christen im Irak werden immer häufiger bedroht und umgebracht, die Welt schaut staunend zu, auch wir Christen in sicheren Ländern. Auch 65 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und der Massenvernichtung von Juden und Andersdenkenden gibt es immer noch genügend Menschen, die Menschen mit jüdischer Religion als Unglück für unser Volk ansehen und die sich mehr oder weniger heimlich einen neuen Hitler wünschen, der für Ordnung sorgt. Keine Angst, ich habe die Predigt nicht mit den Fernsehnachrichten, mit hart aber fair, Anne Will oder Menschen bei Maischberger verwechselt. Es geht nicht um politische Propaganda. Es geht nicht darum, dass ich als Pfarrer jetzt erst mal allen sagen will, was richtig und was falsch ist. Es geht um das Erbe, das Paulus uns mit dem hinterlassen hat, was er an die Gemeinde in Rom lange vor unserer Zeit geschrieben hat. Als Christ, noch dazu als Pfarrer, bekomme ich öfter mal zu hören: „Weißt du, die Bibel, das ist doch was für das Privatleben. Eigentlich gar nicht mehr aktuell. Fürs stille Kämmerlein und die seelische Erbauung in schlechten Zeiten vielleicht gut.“ Das, was Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefs schreibt, hat aber mit Rückzug ins stille Kämmerlein und mit Beschränkung auf die eigene Seele rein gar nichts zu tun. Er macht den Blick ganz weit. Es geht eben nicht nur um mich und meine Seele, um meine Familie, meine Kirche oder mein Land, mein Volk. Mit Jesus hat Gott ein Zeichen der Hoffnung für die ganze Schöpfung aufgerichtet. Die Hoffnung, die Erlösung, die Liebe, macht vor den Grenzen, die wir immer wieder gern ziehen, nicht halt. Seine Liebe, die Erlösung durch ihn, ist maß- und grenzenlos. Gott nimmt die Welt, die Schöpfung in den Blick. Und als Christ, als Mensch, der sich zu Jesus bekennt, der auf ihn seine Hoffnung setzt, kann ich deshalb die Augen nicht vor der Welt zu machen. Der Theologieprofessor und Pfarrer Karl Barth soll vor ungefähr 90 Jahren mal sinngemäß gesagt haben: als Pfarrer, als Christ, muss ich immer die Bibel in der einen und die Zeitung in der anderen Hand haben. Heute würde man vielleicht sagen, mit einem Auge muss ich in die Bibel und mit dem anderen ins Internet und ins Fernsehen schauen. Es geht darum, dass ich die Welt sehe, wie sie ist, wahrnehme, was in der Welt los ist. Denn diese Welt ist Gottes Welt. Diese Welt ist es, der Gott Erlösung verspricht. Nicht meine kleine, private Welt, in der ich es mir so einrichte, dass es mir passt. Wer mit offenen Augen, Ohren und Herzen in der Welt unterwegs ist, der hört ganz bestimmt eine Menge von dem Seufzen der Schöpfung, der bekommt etwas mit vom ängstlichen Warten darauf, dass sich endlich mal was zum Guten ändert. Und das ist ja nicht nur bei anderen und irgendwo in der Welt so. Auch im eigenen Leben gibt es manches, was Angst macht. Ich erspare mir, euch und ihnen mal, Beispiele aufzuzählen. Gott sei es geklagt, viel zu viel ist da, wo Erlösung dringend nötig ist. Aber ich glaube, über alle ganz persönlichen Probleme und Angstmacher hinaus gibt es zwei, drei Dinge, die grundlegend Angst machen und die Paulus in diesen Versen aus dem Römerbrief auch anspricht.

Da ist einmal die Erfahrung der Vergänglichkeit. Leben in dieser Welt hat ein sichtbares Ende. Und von Menschen, die für mein Leben wichtig sind, muss ich immer wieder Abschied nehmen. Und zuletzt sicher auch von dem Wunsch, ewig jung und kraftvoll bleiben zu können und ohne Leid leben zu können. Nichts von dem, was Menschen sich in ihrem Leben aufbauen, bleibt ewig.

Zum anderen ist da, und das hängt mit der Erfahrung der Vergänglichkeit zusammen, das Erleben des Gefühls von Überforderung und auch Resignation. Von mir selbst kenne ich ganz gut den Gedanken: „Ich muss anpacken, ich muss selbst dafür sorgen, dass das was wird.“ Und dann merke ich doch mehr oder weniger schnell, dass ich eben nicht jedem das geben kann, was er braucht und mich nicht für jedes Problem, das dringend ist, einsetzen kann. Manche wollen vielleicht auch die Hilfe, die ich anbieten kann, gar nicht. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, wer sich nicht von vornherein gegen alles abschirmt und sagt: das geht mich nichts an, der wird heute mit einer solchen Fülle von Nachrichten, Eindrücken und Möglichkeiten bombardiert, dass es er sich schnell ganz klein und ohnmächtig fühlt und sich dann doch aus Frust, nicht alles, was wichtig ist, tun zu können, zurückzieht. Paulus verabreicht uns aber durch das, was er hier im Römerbrief schreibt, eine Art Frustschutzmittel.

Erstens erwartet er nicht von Christen, dass sie Super-männer und Superfrauen sind, die sich für alles einsetzen und perfekt sind. Wir stehen als Christen in einer Reihe mit der ganzen Schöpfung, die auf die Erlösung wartet. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes, schreibt er. Zweitens ist die Offenbarung der Herrlichkeit, das Ende aller Leiden, die Vollendung zum Guten nichts, was Menschen herstellen können. Auch noch so gute Christen nicht. Wir alle unterliegen der Vergänglichkeit. Alles, was wir tun und lassen ist vorläufig, nicht ewig. Wo das verwechselt wird, wo Menschen sich anmaßen, allein die Welt zum Guten bringen zu können, ist Diktatur und Unterdrückung nicht weit. Gottesstaaten, Führerstaaten, der Sozialismus mit menschlichem Gesicht – alle Versuche, als Mensch vollkommenes Glück, und sei es auch nur für das eigene Volk oder die eigene Glaubensgemeinschaft, herstellen zu wollen, scheitern und führen zu Gewalt, Maßlosigkeit und Unterdrückung. In Nord-Korea und im Iran, in China, früher in der Sowjetunion, erst recht in Deutschland zur Zeit der Nazis, aber auch in dem Gottesstaat, der vor fast 500 Jahren in Genf eingerichtet wurde oder bei den Verfolgungen von sogenannten Ketzern oder Hexen. Wo Menschen Erlösung herbeizwingen wollen bleibt die Menschlichkeit auf der Strecke. Heute, am Volkstrauertag, wird vielerorts an die Opfer solcher Unmenschlichkeit, von Krieg, Nazidiktatur und Stalinismus erinnert. Zu Recht. Damit wir nicht ver-gessen, wohin es führt, wenn Menschen sich an Gottes Stelle setzen. Und sei es manchmal auch angeblich im Namen Gottes. Nicht ich, nicht wir müssen letzte Erlösung schaffen. Der zweite Teil des Frustschutzmittels Römerbrief.

Der dritte Teil ist die Hoffnung, von der Paulus erzählt. Die Hoffnung, dass die Herrlichkeit Gottes alle Leiden überstrahlt, nicht ungeschehen, aber erträglich macht. Die Hoffnung, dass wir und mit uns die Welt durch Gott von allem Leiden, von aller Vorläufigkeit und Vergänglichkeit erlöst wird. Eine Hoffnung, die manchmal dem widerspricht, was sichtbar ist. Hoffnung als Widerspruch gegen das, was als normal, als unabwendbar hingestellt wird. Ein, wie ich finde, schöner Gedanke. Auch bei dem, was offene Augen einem alles zeigen: die ungelösten Fragen beim Atommüll, Gewalt und Leid in Kriegen, Verfolgungen wegen des Glaubens, Menschen, die glauben, andere zu Menschen zweiter oder dritter Klasse machen zu müssen. Hoffnung als Widerspruch gegen das Sichtbare. Paulus macht uns Mut, so zu hoffen. Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. So schreibt es Paulus. Hoffnung. Nicht, weil wir Träumer sind, die ihre Augen vor der Wirklichkeit zumachen. Sondern weil wir wissen, dass die Wirklichkeit, die Gott schenken wird, mehr bringt als das, was wir kennen und uns vorstellen können. Hoffen, nicht, in dem wir unsere Hände in den Schoß legen oder mit Gewalt unsere Hoffnung durchsetzen. Sondern in dem wir uns für das Leben, das Gott bereit hält, einsetzen. Ohne dabei unseren Willen mit Gottes Willen zu verwechseln. Was in 35000 Jahren sein wird, wissen wir nicht. Aber wir können heute Hoffnung leben und so Zeichen für das Leben setzen.



Amen

Sonntag, 7. November 2010

Ich bin... - Wirklich? Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7.11.2010, Reihe II

Predigttext: Römer 14,7-9
Eingangsdialog

Lisa: Wer bin ich?
Marcel: Na, Lisa natürlich!
Lisa: Das weiß ich selbst! Aber wer bin ich eigentlich?
Marcel: Du bist fast meine Nachbarin und die Tochter von Sabiene Kellermann.
Lisa: Ja, schon klar. Aber das reicht doch nicht! Ich bin doch mehr!
Marcel: Also gut, von mir aus: du bist die Schwester von Maurice und Raphael, du bist Schülerin der Martin-Luther-Schule, du bist Konfirmandin…
Lisa: Das weiß ich doch, aber da muss doch noch mehr sein! Wer bin ich denn wirklich?
Marcel: Also, da kann ich dir jetzt auch nicht weiterhelfen. Wer du bist, wer soll das denn wissen, wenn du das nicht weißt?

Liebe Gemeinde!

Spinnereien von Jugendlichen, Haarspaltereien, Kleinkram – so kann man das Gespräch von Lisa und Marcel abtun. Typisch Pubertät, nicht mehr richtig Kind, längst noch nicht erwachsen, irgendwo dazwischen, da ist man halt verwirrt und fragt sich so komisches Zeug, wer man denn nun ist. Ja, als Erwachsener, da muss man im Leben stehen und wissen, wer man ist. Aber weiß ich wirklich, wer ich bin? Der Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der im Konzentrationslager saß, weil er ein Attentat auf Hitler vorbereitete und der von den Nazis umgebracht wurde, hatte da auch als Erwachsener so seine Zweifel. Er schrieb an einen Freund: Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Wer bin ich? Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Klar, auch bei ihm könnte man sagen: der hat halt im Gefängnis zu viel Zeit zum Nachdenken gehabt und das KZ hat ihn unsicher gemacht. Als Erwachsener weiß man, wer man ist. Kann man sagen. Man. Ich nicht. Zu vielfäl-tig ist das, was mich zu dem gemacht hat, der ich im Moment bin. Und meine Eltern nehmen mich anders wahr als meine Frau. Meine Schüler anders als die Menschen im Altersheim, die ich besuche. Und was denke ich über mich? An Tagen, an denen alles klappt und ich net-ten Menschen begegne oft, dass ich ein ganz guter Kerl bin. Aber leider gibt’s auch andre Tage. Mit dem Ich ist das doch so eine Sache. Keiner von uns kommt als unbe-schriebenes Blatt zur Welt. Nicht nur genetisch geben uns unsere Eltern etwas mit. Und die Umgebung, in die wir hineinwachsen, lässt uns auch nicht unberührt. Niemand kann was für seine Eltern. Und trotzdem steht schon eine Menge auf unserem Lebensblatt, wenn wir die ersten Atemzüge außerhalb des Mutterleibes machen. Eine Menge können wir dann selbst auf das Blatt unseres Le-bens schreiben. Aber es ist schlicht falsch, einfach zu sagen: jeder ist seines Glückes Schmied und hat sein Schicksal selbst in der Hand. Wer bin ich also? Dietrich Bonhoeffer hat eine Antwort gefunden: Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott! Eine Antwort, die eigentlich schon viel älter ist als die fast 70 Jahre, die der Brief von Bonhoeffer an seinen Freund auf dem Buckel hat. Paulus schreibt nämlich in seinem Brief an die Gemeinde in Rom im 14. Kapitel: Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.

Ja, keiner lebt sich selber. Hört sich altmodischer an, als es ist. Keiner lebt, weil er das für sich selbst entschieden hätte, aus eigenem Antrieb und aus eigenem Willen. Und keiner lebt für sich allein. Binsenweisheiten. Aber es tut gut, sich immer mal wieder klar zu machen, dass es weder mein Verdienst noch meine Schuld ist, dass ich lebe. Und das alles, was ich tue oder lasse, auch Auswirkungen auf andere hat. Ich kann andere zum Lachen oder zum Weinen bringen, ich kann ihnen Gutes tun oder schaden. Selbst Gleichgültigkeit kann manchmal gut tun, wenn sie dem anderen zeigt: mach ruhig, was du für richtig hältst. Gleichgültigkeit kann aber auch schaden, weil eine eigentlich nötige Hilfe nicht geleistet wird. Keiner lebt sich selber – und keiner stirbt sich sel-ber. Scheinbar ganz banal: jeder Tod hat Auswirkungen auf das Leben von anderen, und sei es vielleicht auch nur dadurch, dass ein Platz in einem Seniorenheim frei wird, wenn keiner da ist, der wirklich trauert. Aber hinter beidem, hinter keiner lebt sich selber und hinter keiner stirbt sich selber steckt sehr, sehr viel mehr. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Dem Herrn leben, Gott zu leben, das heißt nicht, dass wir mit unserem Leben Gott dadurch eine Freude machen sollen, dass wir immer schön dass machen, wovon andere sagen, dass Gott es so will. Dem Herrn zu le-ben, das heißt, Gott die Ehre zu geben. Und zwar dadurch, dass wir unser Leben wirklich als unser Leben annehmen. Dadurch, dass wir die Verantwortung annehmen, die Gott uns für unser Leben gibt. Und dass wir daraufhin leben, der oder die zu werden, den oder die Gott in uns sieht. Typisch komplizierter Kling-Böhm-Satz, denken manche vielleicht mal wieder. Dem Herrn, also Gott, zu leben, das heißt erstmal, kein anderer sein zu wollen und Verantwortung für das Leben nicht abzuschieben. Eigentlich Trost und Freiheit. Ich bin was wert, auch wenn ich die Erwartungen meiner Eltern oder meiner Kinder, je nach Blickwinkel, nicht erfülle. Ich bin ein Christ, auch wenn ich nicht alles mache, von dem andere sagen, dass es unbedingt dazugehört. Wir leben nicht, um vor anderen gut da zu stehen, wir leben nicht, um von anderen geliebt zu werden, sondern um selbst zu lieben. Die Menschen und Gott. Wir leben, weil wir geliebt werden. Von Gott. Paulus schreibt seine Be-trachtung über das Leben und Sterben in einem ganz kon-kreten Zusammenhang. Ganz verkürzt könnte man sagen: es ging unter anderem darum, ob ich als Christ Fleisch essen darf oder nicht. Keiner von euch steht höher als der andere, schreibt Paulus dann. Jeder steht mit seinem Glauben und seinem Leben vor Gott. Jeder muss sich für sein Leben, für seinen Glauben verantworten. Gott schenkt uns Freiheit, und wenn du daraus ableitest, dass es keine Gebote über das Essen gibt, dann iss das Fleisch mit gutem Gewissen. Aber du hast es doch nicht nötig, andere zu provozieren. Wenn solche dabei sind, die sich dadurch angegriffen fühlen, dann halte dich ruhig auch mal zurück. Das sind doch alles vorletzte Dinge. Mach nichts wichtiger als es ist. Und wenn es für dich wichtig ist, kein Fleisch zu essen, dann akzeptiere auch, dass es für andere anders sein kann. Vor Gott muss sich der andere verantworten, nicht vor dir! Gelassenheit im Glauben, Gelassenheit im Umgang miteinander. Gelassenheit, nicht Gleichgültigkeit. Gelassenheit, aus der Liebe wachsen kann. Weil ich weder mich noch den anderen ständig umformen muss, sondern weil ich mich und mein Leben ganz Gott anvertrauen darf und weiß, dass der der andere das auch darf. Auch dann, wenn er ganz anders ist als ich. Ich glaube, dass diese Denkweise bis heute wichtig und leider immer seltener anzutreffen ist. Viel zu viel Energie wird aufs Rechthaben verschwendet und die fehlt dann beim rechten Handeln. Wer bin ich nun also? Da kann ich keine Antwort drauf geben. Niemanden. Denn die Frage kann nie abstrakt einfach so beantwortet werden. Immer nur in Beziehung. Wer bin ich – für mich, für meine Freunde, für meine Familie, für die Gemeinde, für den Menschen, der mir morgen früh begegnet? Und die Antworten werden ver-schieden ausfallen. Wer bin ich – am Ende lässt sich das nur von Gott beantworten. Niemand von uns überblickt sein Leben, sein Tun und Lassen, die Konsequenzen davon ganz und gar. Wer bin ich – ein Mensch. Dessen Leben einen sichtbaren Anfang und ein sichtbares Ende hat. Dessen Leben aber vor Gott und für Gott mehr ist als diese sichtbare Zeitspanne. Ein Mensch mit Freiheit und Verantwortung. Ein Mensch, der sich auf das verlassen darf, was Paulus auch schreibt: Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über tote und Lebendige Herr sei. Gott lässt uns nicht im Tod, nicht in unserer Schuld stehen. Gott wird uns vor unser Leben, vor unsere Verantwortung, vor das Gelungene und vor die Schuld stellen. Wir werden die Konsequenzen sehen. Aber wir können sie tragen, weil Gottes Liebe, die er uns in Christus gezeigt hat, uns trägt. Wir können leben. Wir müssen dabei nicht ein anderer werden, sondern wir dürfen wir selbst werden. Weil Gott mein Leben will. Weil Gott mein Leben hält. Mein Leben. Und nicht ein fremdes Leben, das ich vorspiele, um anderen zu gefallen.
Amen