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Montag, 2. August 2010

Richten, nicht hinrichten - 9. n. Trinitatis, 01.08.2010, Marginaltext

Text: 1. Könige 3,16-28
Liebe Gemeinde!


Irgendetwas fehlt. Irgendwas ist anders. Mitten in er Nacht, alles ist noch dunkel, wacht die Frau auf. Verwirrt, weil irgendwas anders als sonst ist. Zuerst ahnt sie nur, doch dann ist es, als ob ein Blitz sie getroffen und ihr innerstes zerrissen hätte. Der Atem fehlt. Der Atem des Kindes neben ihr, ihres Kindes ist nicht mehr zu hören und zu spüren. Sie horcht, sie drückt, sie schüttelt. Nichts passiert. Das Kind atmet nichtmehr. Sie wollte es wärmen, schützen gegen die Kühle der Nacht. Und statt des wärmenden Schutzes hat ihr Körper dem Kind den Tod gebracht. Erstickt. All ihre Träume, all ihre Sehnsucht. Mitgestorben. Aus und vorbei. Sie hätte am liebsten losgeheult, ihren Schmerz herausgeschrien. Aber dann wären ja die Freundin und ihr Kind aufgewacht. Die Freundin und ihr Kind? Ein Gedanke zuckt durch ihren Kopf. Nein, das kannst du nicht machen. Doch. Ich bin die Ältere. Sie ist in meinem Haus. sie ist noch jung, hat noch so viele Chancen. Ist das nicht ungerecht? Ich habe ihr Gastfreundschaft gewährt und jetzt bin ich so unglücklich. Es muss gehen! Es wird schon nicht auffallen. Und wenn doch? Egal! Vorsichtig steht sie auf, liebkost ihr totes Kind ein letztes Mal. vorsichtig legt sie es ab. direkt neben die Freundin. Ein letztes Mal beschleichen sie Skrupel. Kann ich das wirklich? Doch dann nimmt sie das atmende, lebende, warme Kind der Freundin in ihren Arm. Es wacht nicht mal auf. Glück. Trauer. Schlechtes Gewissen. Sie weiß gar nicht, was ihr in diesem Moment alles durch den Kopf geht. Und dann graut der Morgen. Die Freundin erwacht. Sie dreht sich nach ihrem Kind um. Will es in die Arme schließen, noch einmal vor dem Stillen liebkosen. Doch dann…

Doch dann – was dann kommt, haben wir gerade gehört. Eine traurige Geschichte. In meiner Kinderbibel wurde sie als kalte, herzlose Frau dargestellt. Die Mutter, deren Kind gerade gestorben war und die mit aller Macht ein lebendiges Kind in den Armen halten wollte. Und ich glaube, dass das bei fast allen, die diese Geschichte hören, die erste Reaktion ist. Was für eine kalte, herzlose Frau. Nimmt einer anderen einfach ihr Kind weg! Heute frage ich mich, ob sie nicht einfach nur verzweifelt war. Es gibt wohl kaum eine größere Katastrophe, als das Sterben des eigenen Kindes mitzuerleben. Ich denke heute nicht nur an die Eltern der 21 jungen Menschen, die am vergangenen Wochenende in Duisburg starben, nicht nur an die Eltern der beiden Kinder, die in den Ferien bei einem Tauchunfall starben. Ich denke auch an die Mütter und Väter, denen kein Unfall und keine absehbare Krankheit, sondern ein unerklärlicher plötzlicher Kindstod das Kind, auf das sie sich freuten, in dem ihre Hoffnung lebte, nahm. Müssen wir diese Frau, die eine solche persönliche Katastrophe erlebte, verurteilen? Ich tue mich heute sehr viel schwerer damit als in den Zeiten, in denen ich in meiner Kinderbibel gelesen habe. Ich bin froh, dass der weise König Salomo in dieser biblischen Geschichte auf so kluge Art ein Urteil gesprochen hat, dass der einen Frau zu ihrem Recht verhalf, ohne die andere Frau wirklich zu bestrafen. Er setzt nicht noch eins drauf, tritt nicht nach, obwohl diese Frau natürlich Schuld auf sich geladen hatte.

So weit, so gut – oder auch nicht. Eine Geschichte aus der Bibel, die von traurigen Erlebnissen erzählt, von einem guten Richter und König. Und gar nicht von Gott. Oder besser: fast gar nicht. Im allerletzten Satz, den ich eben aus der Bibel vorgelesen habe, kommt Gott dann tatsächlich vor: Und ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie fürchteten den König; denn sie sahen, dass die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten. Im Handeln von Menschen, in der Art und Weise, wie sie Verantwortung für das Leben, für Gerechtigkeit übernehmen, ist etwas vom Wesen Gottes zu erkennen und zu spüren. Darum geht es in dieser Geschichte. Nicht um lange und komplizierte Erklärungen, wer Gott denn nun sei und wie er auf übernatürliche Weise das Schicksal von Menschen beeinflusst. Gott ist der, der Menschen befähigt, für ein lebenswertes, gerechtes Miteinander zu sorgen. Von König Salomo wird erzählt, dass er in einem Gebet Gott nicht darum gebeten hat, ihn reich und stark und mächtig zu machen, sondern dass er Gott darum gebeten hat, ein hörendes Herz zu bekommen, das zwischen gut und böse unterscheiden kann und das ihn in die Lage versetzt, seiner Verantwortung als Richter gerecht zu werden. Diese Geschichte der beiden streitenden Mütter soll drastisch vor Augen führen, dass Gott dieser Bitte entsprochen hat. Auch wenn König Salomo seit fast dreitausend Jahren tot ist, bleibt für mich einiges übrig, was diese Geschichte bis heute wichtig macht. Für mich macht sich das an den drei Hauptpersonen der Geschichte fest. Da ist einmal Salomo: Dort, wo Menschen zu ihrer Verantwortung stehen, wo sie bereit sind, Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit zu übernehmen, wo sie sich auf die Seite des Lebens stellen, kann Gottes Wesen spürbar werden. Hohe Ansprüche, sicher. Und wie man leider aktuell sieht, alles andere als selbstverständlich. Da wird sich vor Verantwortung gedrückt. Nicht nur in Duis-burg. Und da verhelfen Menschen mit Macht nicht immer den Schwachen zu ihrem Recht. Sicher, die Fragen nach einer Gesundheitsreform, nach der Einkommenssicherheit im Alter oder nach der richtigen Verteilung von Reichtum nicht nur in unserem Land, sondern weltweit, lassen sich nicht so einfach lösen wie das Problem, wem das Kind nun eigentlich gehört. Aber manchmal fehlt das Gefühl, dass Menschen bereit sind, nur auf von Gott geschenkte Weisheit und offene Herzen zu setzen, statt auf Macht, Stärke, Reichtum. Und bevor ich oder wir anfangen, auf „die da oben“ zu schimpfen, sollte sich jeder fragen, wovon er oder sie sich beeindrucken lässt. Von Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit oder von Stärke und Geld.

Neben Salomo ist da die Mutter, der ihr Kind weggenommen wurde. Um das Leben ihres Kindes zu retten, ist sie bereit, es im wahrsten Sinn des Wortes loszulassen. Für mich ist das auch eine Botschaft, die Gott uns in dieser Geschichte schenkt. Loslassen ermöglicht Leben. Wo Menschen nicht ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte, nicht ihre eigenen, ja durchaus berechtigten Ansprüche, sondern das Leben des anderen in den Mittelpunkt stellen, dort besteht die Chance, Gott zu begegnen, dort besteht die Chance, das Leben wirklich zu gewinnen.

Bleibt noch die Mutter, die in ihrer Trauer oder Verzweiflung oder auch nur ihrem Egoismus völlig falsch gehandelt hat. Sie wird nicht denunziert. Sie wird nicht hingerichtet und es gibt keine Rache an ihr. Für mich heißt das bis heute: Gott richtet. Er sorgt für Leben, für Gerechtigkeit. Gott richtet, aber er richtet nicht hin. Er verbaut nicht die Chance zu einem Neuanfang. In dieser Geschichte ist das angelegt, was in Jesus Christus dann für alle Welt sichtbar geworden ist. Selbst denen, die Schuld auf sich geladen haben, verbaut Gott nicht die Rückkehr ins Leben. Gott ist der Gott des Lebens. Ohne wenn und aber. Gebe Gott, dass wir dies wirklich erfassen. Gebe Gott, dass wir ein hörendes, offenes Herz haben, Weisheit und Verantwortungsbereitschaft, wenn wir die Macht haben, zu urteilen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Gebe Gott, dass wir die Bereitschaft haben, loszulassen, Menschen, an denen wir hängen, eigene Wünsche und Sehnsüchte, wenn es dem Leben dient und wir durch Loslassen Leben gewinnen können. Und gebe Gott, dass wir auch hören und annehmen können, dass wir dann, wenn wir schuldig werden, nicht hingerichtet werden, sondern dass uns der Weg zum leben, zur Umkehr neu geöffnet wird.

Amen.

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