17.08.08, Reihe VI Text: Apostelgeschichte 6,1-7
Liebe Gemeinde!
Früher war alles besser! Da haben sich die Konfirmanden noch für die Kirche interessiert, da kannten die Konfirmanden noch zig Lieder, die Zehn Gebote und viel mehr auswendig. Früher, da waren die Schüler lieber und haben auf die Lehrer gehört. Früher haben die Menschen mehr zusammengehalten, da hat einer auf den anderen geachtet. Früher, da war man sich in der Kirche einig. Früher, da haben sich die Menschen in den Gemeinden noch umeinander gekümmert, da kannte man sich noch in der Kirche. Früher, in der guten, alten Zeit!
Aber war das wirklich so? Macht man sich nicht wirklich was vor, wenn man zu viel und zu oft nach hinten schaut? Man sieht Probleme - und anstatt sie anzupacken und zu lösen schaut man zurück in eine Zeit, die anders war. In den Träumen war sie einfacher, leichter, besser. Aber in der Wirklichkeit? Ich glaube nicht, dass irgendeine Zeit besser war als die Gegenwart. Manches war sicher einfacher. Die Leute gingen sicher öfter in die Kirche. Aber ob sie das freiwillig gemacht haben? Für Jugendliche ohne Schulabschluss gab es viel mehr Möglichkeiten, eine Arbeit zu finden - dafür gab es, obwohl das heute auch noch nicht ideal ist, für Kinder, die wie ich aus Familien mit wenig Einkommen stammen, fast keine Möglichkeit, Abi zu machen oder zu studieren. Und ob die Menschen sich früher wirklich mehr geholfen haben - ich weiß nicht, ob man sich da nicht was vormacht und was schön redet. Oder umgekehrt, die Gegenwart schlecht redet. Es gibt viele Menschen, die einfach so anpacken und helfen. Immer noch. Sicher, für manches zu wenig. Und es ist nicht mehr so gemütlich wie früher. Das Lebenstempo ist höher. Und dadurch, dass man viel mehr Leute in seinem Leben kennen lernt, dadurch, dass man mobiler ist, nicht immer da bleibt, wo man geboren wurde, sind viele Kontakte weniger intensiv. Aber das muss ja nicht immer nur schlecht sein. Früher war’s nicht besser - sondern anders. Und in Zukunft wird’s nicht schlechter werden - aber auch nicht besser. Anders aber. Wir leben jetzt. Und jetzt müssen wir schauen, was dran ist. Und dabei kann es manchmal tatsächlich auch helfen, nachzuschauen, was Menschen früher gemacht haben. Denn manche Probleme, die wir Menschen heute haben, sind gar nicht so neu. Sie drücken sich anders aus, weil die Zeit weitergegangen ist. Aber im Grundsatz sind sie schon ziemlich alt. Ich finde, dass das auch für die Geschichte von unserem Predigttext heute gilt. Nicht nur meine Konfis, ich glaube, auch viele Erwachsene, werden erstmal sagen: „Was interessiert mich, was die Leute vor 2000 Jahren in Jerusalem für Probleme gehabt haben und wen sie als Problemlöser gewählt haben?“ Aber ich finde schon den Anfang der Geschichte typisch bis heute. Da gibt’s was, womit die Leute unzufrieden sind, was ihnen in der Gemeinde nicht passt. Aber keiner sagt wirklich klar und deutlich, was das ist, sondern die Leute fangen an zu murren. Murren, das heißt eben keinen offenen Streit zu suchen, sondern im Untergrund und Hintergrund unzufrieden vor sich hin und mit anderen zu schwätzen und die Stimmung dadurch mies zu machen. Ich finde, das ist bis heute ein bewährtes und beliebtes Mittel. In der Schule, in der Politik, in der Kirchengemeinde, in Vereinen, in der Nachbarschaft. Im Hintergrund zu schimpfen „Läuft ja alles falsch, die Kirche ist zu altmodisch, kümmert sich nicht genug um die Armen oder die Jugend oder die Alten oder, oder, oder - die Predigten sind zu lasch, die Leute werden zu wenig besucht“ - ach, tausend Sachen mehr. Ich hab’s jetzt nur mal auf die Kirche bezogen. Die anderen Punkte kann sich, glaube ich, jeder aus eigener Erfahrung selbst ausdenken. Aber keiner sagt das so richtig offen und vor allem: keiner nimmt die Sache in die Hand und versucht, was zu ändern. Ich finde es erstmal wirklich gut, dass einem die Bibel nicht vormacht, dass früher alles gut und toll gewesen wäre, sondern dass sie einem immer wieder klar zeigt: auch Christen sind keine Superhelden. Und der Grund für dieses Gemurre und Gezerre ist eigentlich auch ganz modern. Da gibt’s zwei Gruppen in der Gemeinde. Die Einheimischen, die schon immer da gewohnt haben, und die Fremden. Die sprechen die Sprache der Einheimischen meistens ziemlich schlecht. Und die haben das Gefühl, dass sie, beziehungsweise ihre Witwen, benachteiligt werden. Witwen waren damals darauf angewiesen, dass die Familie des verstorbenen Mannes sie mit ernährte. Wenn sie aber von der Familie rausgeworfen wurden, z.B. weil sie Christ geworden waren, hatten sie keine Versorgung. Rente, Hartz IV, das gab’s alles nicht. Und da war`s wohl so, dass die fremden, zugezogenen Witwen von den Einheimischen nicht richtig beachtet wurden und zu kurz kamen. Es ist eben auch wenn man an Gott glaubt und Christ ist, nicht immer leicht, gerecht zu sein, Menschen, die andere Sprachen sprechen, andere Bräuche haben oder aus einem anderen Land kommen, gleich und gerecht zu behandeln. Das soll jetzt keine falsche und zu schnelle Entschuldigung für unsere Gegenwart sein, auch kein Zeigefinger, der sagt: „Ihr Bösen, ihr seid gar keine richtigen Christen, wenn so was passiert“. Nein, ich finde die Geschichte aus der Bibel gut und bis heute wichtig, weil sie ganz praktisch an das Problem rangeht. Die, die Gemeinde leiten, lassen die Betroffenen selbst entscheiden. Sie sagen nicht: „Wir müssen die Superkönner sein und für alles sorgen“, sondern sie sagen: „Bestimmt Leute, denen ihr vertraut, Leute, die dafür sorgen, dass auch die Ärmsten und Schwächsten zu ihrem Recht kommen“. Für mich ist das ein tolles Merkmal von christlicher Kirche, das niemand von oben herab behandelt wird, sondern dass auch denen, die vielleicht manchmal schwächer sind, zugetraut wird, selber was in die Hand nehmen zu können. Ob das auch heute und auch bei uns so ist? Wichtig ist auch, dass die Leute, die für die Gemeinde Verantwortung haben, nicht alles selbst machen wollen. Sie kennen ihre Grenzen. Bis heute ist das für mich ganz persönlich sehr wichtig. Ich gebe es zu, aus eigener Betroffenheit. Manchmal heißt es: Kirche muss mehr Zeit für Alte haben, mehr für Jugendliche tun, mehr Menschen besuchen, sich mehr in Sozialpolitik einmischen und mehr für Arme tun und, und, und. Bei manchen, die so mehr oder weniger deutlich murren, heißt das: Der Pfarrer muss mehr… Umgekehrt gibt es das natürlich auch. Das Pfarrer zu Menschen, die sich engagieren, sagen: Ach, sie machen doch den Seniorenkreis so toll, können sie nicht auch noch Besuchsdienste machen, Briefe verteilen, Fahrdienste für Senioren machen und so weiter. Aber keiner kann alles allein. Darum geht es hier in der Apostelgeschichte. Und deshalb ist sie bis heute für mich, und auch für uns als Gemeinde wirklich aktuell. Es ist gut, dass es verschiedene Aufgaben gibt und das verschiedene Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Begabungen ihre Aufgabe machen. Ich finde es wichtig, dass es dabei keine Hitliste gibt. Wer zum Beispiel gut predigen kann, steht ganz oben und wer sich um die Kinder oder Alten kümmert, weiter unten. Oder umgekehrt. In der Apostelgeschichte sagen die Gemeindeleiter: „Wenn wir uns jetzt auch noch um die Witwen kümmern, dann würden wir das Wort Gottes, die Predigt und so weiter, vernachlässigen müssen.“ Bevor man jetzt gleich sagt: „Die halten sich dann doch für was Besseres, Kirche lebt doch von der Diakonie, vom Dienst am Nächsten“, möchte ich doch mal zum Nachdenken einladen. In der Bibel steht sinngemäß: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch von Gottes Wort“. Es geht eben drum, und ich glaube, dass wir das heute immer wieder neu sehen lernen müssen, dass das kein Gegeneinander ist. Beides gehört zusammen. Aber nicht, weil einer alles macht, sondern weil alles in der Gemeinschaft, die sich auf Gott beruft, vorkommt. Ohne dass es dabei ein oben und ein unten gibt. Die Gemeindeleiter waren nicht zu faul, sondern sie waren Realisten. Und sie waren bereit, Verantwortung abzugeben und zu teilen. Menschen brauchen beides: Etwas was ihren Hunger nach Nahrung stillt, was ihnen hilft, ein menschenwürdiges Leben zu führen - und auch gute Worte, die ihnen gesagt werden. Menschen, die ihnen zuhören, die sie auf gute Gedanken bringen, die Gottes Wort weitersagen. Diakonie ist Dienst am Menschen und Dienst am Wort. Eine Kirche, in der nicht beides da ist, in der eins davon gering geschätzt wird, hört auf, christliche Kirche zu sein. Für mich wird das auch aus der alten Geschichte, die wir heute als Predigttext gehört haben, deutlich. Früher war vieles anders, nicht grundsätzlich besser. Aber es gibt Wahrheiten, die sind zeitlos. Die Wahrheit, dass keiner von uns alles können und machen muss, um besonders christlich zu sein. Die Wahrheit, dass erst aus dem Miteinander der Dienste am Menschen und am Wort Gemeinde entsteht. Und wenn man jetzt als Konfirmand oder als alter Mensch fragt: „Und was hat das jetzt alles mit mir zu tun?“, dann kann ich nur sagen: Vielleicht hilft es, die Augen aufzumachen, nicht nur zumurren, wenn man Probleme erkennt, sondern da den Mund für andere aufzumachen, wo sie es nicht können. Und dann mit anderen nach Lösungen zu suchen. Die eigenen Kräfte und Möglichkeiten realistisch sehen. Nicht Gottesdienst und Jugendarbeit, Besuchsdienst, Konfer, Hilfe für Arme gegeneinander auszuspielen, sondern als Miteinander zu sehen. So entsteht und bleibt Gemeinde und Gemeinschaft. Untereinander und mit Gott. Nicht immer ideal, früher nicht und heute, aber immer lebendig und von Gott gehalten. Amen.